KLEINE VERA (Malenkaya Vera)

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Sowjetunion 1987/88
Regie: Vasili Puchil
Drehbuch: Maria Khmelik
Produzent: Gorky Studios
Kamera: Efim Rezhnikow
Musik: Wladimir Matesky
Darsteller: Natalia Negoda, Andrei Sokolow, Iuri Nazarow, Liudmila Zaitsewa
129 min

Unverkrampftes Zeitgeist-Drama über das Leben in der Sowjetunion Ende der 80er.

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Nicht Kira Muratowas DAS ASTHENISCHE SYNDROM, sondern Vasili Pichuls KLEINE VERA ist der filmische Monolith von Glasnost in jeder Hinsicht. Die Naivität und Sturheit eines Debütregisseurs, die Nacktszene einer Powerfrau und der unverblümte und unzensierte Zeitgeist machten ein Gorkystudio-Nebenprojekt zum größten Publikumserfolg der zerfallenden UdSSR mit 54 Millionen Zuschauern und zu einem internationalen Festival- und Publikumshit, ohne dabei so verspielt wie ASSA (1987) zu sein und nicht ganz so rentner-lechz-anbiedernd wie INTERGIRL (1989).
Über keinen anderen Chernukha wurde mehr geschrieben als über KLEINE VERA. Deshalb anstelle einer Kritik nur zusammengeklautes filmgeschichtliches Bildungszeugs:
Vasili Pichuls Autorin war seine spätere Frau Maria Khmelik, die das Drehbuch 1983 als ihre Diplomarbeit schrieb. Beide waren damals 22 Jahre jung. Bis 1986 gingen sie ohne Erfolg damit hausieren, bis sich die Filmemacherin Tatiana Lioznova für sie einsetzte und das Projekt doch in Gang gesetzt wurde. Gorbatschow war seit März 1985 an der Macht, Tschernobyl war der Welt im April 1986 um die Ohren geflogen und einen Monat später wurde u.a. Elem Klimov, Spitzenreiter im sowjetischen Filmgiftschrank, in den Vorstand des sowjetischen Filmverbands gewählt. Die Folge davon war natürlich die Veröffentlichung von Klimovs AGONIE, ABSCHIED VON MATJORA, KOMM UND SIEH, Tengiz Abuladzes DIE REUE, der als der filmische Papa von Glasnost gilt, und über hundert weiteren Filmen sowie die Absegnung von mutigen Nachwuchsprojekten, u.a. eben KLEINE VERA.
Hauptdarstellerin Natalia Negoda wurde Pichul zwar als Erste für das Casting 1987 vorgeschlagen, war aber nicht die erste Wahl, da sie ihm nach ersten Screen Tests zu durchgeknallt für sein Debüt war und er sowieso genug andere Probleme befürchtete. Er entschied sich für Irina Apeksimova, die ihm aber zwei Wochen vor Drehbeginn wegen TOWER (BASHNYA, 1987) mit dem Oldschool-Regisseur Viktor Tregubowitsch absagte. Und so war Negoda wieder im Rennen. Glück gehabt, denn die ist schon der Hammer. Diese Frisur allein! Die berüchtigte Sexszene hat natürlich damals schon keinen Nicht-Russen mehr hinterm Ofen hervorgelockt, eher die unverschämte Unverkrampfheit, mit der hier das Leben in der Sowjetunion gezeigt wurde. Und das ging so:
Die jungdynamische Vera befindet sich im Schwebezustand zwischen Schule und Universität. Sie lebt in den Tag hinein, betrinkt sich gern und hängt mit ihren Kumpels rum. Nach einem Rockkonzert, das in einer Schlägerei endet, verliebt sie sich in den Taugenichts Sergei, der bald nach seinem Heiratsantrag den Eltern vorgestellt wird. Papa taugt der Knabe nicht wirklich, doch er zieht dennoch bei der Familie ein. Dort entpuppt sich Sergei wirklich als eher nicht-kompatibel, sodass ihm Vattern im Vollsuff ein Messer in den Bauch rammt. Von da an gehts bergab mit der Stimmung, der Familie und vor allem Vera.

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Der Dreh in Zhdanov (heute Mariupol), Pichuls Heimatstadt am Asowschen Meer in der Ukraine, verlief ohne Interventionen von Funktionären, da der Drehort über 1000 km von Moskau entfernt war und die Filmindustrie gerade ganz andere Sorgen hatte. Erst im Schnitt wurde versucht reinzupfuschen, doch Jungspund Pichuli sah die Giftschrank-Diskussionen eher als Ansporn, denn als Einschüchterung, weil jeder verbotene Film automatisch höchstes Ansehen unter Cineasten genoss. Der extreme Erfolg von KLEINE VERA nach seiner Premiere im April 1988 fußte deshalb jenseits seiner Qualitäten eben u.a. auch auf Zensurängsten, da das Publikum diese Frechheit unbedingt sehen wollte, bevor sie weggesperrt wurde. Aber das war ja nicht der Fall.
Maria Khmelik hat nach dem Erfolg des Films ihr Drehbuch noch auf einen Roman ausgeweitet, in dem auch Love-and-Hate-Mail zum Film abgedruckt wurde. Hier ein schönes repräsentatives Zitat eines Herrn Anonymous jenseits der euphorischen Besprechungen: „Please pass on my letter to that wretch of a director. For the fourth day now I have been going around with a feeling of disgust and loathing. I am not a hypocrite, nor am I a prude, but there’s got to be a limit. Is this what glasnost is all about? Being subjected to swear words and pornographic scenes? It’s awful. You call it art? And public and taxpayers’ money is being spent on this!“ oder der hier: „You must be Jews, because you obviously know all about the filth you show in Little Vera.“ Bombenstimmung war wohl nach Pichuls Worten auch bei der Premiere des Films in seiner Heimatstadt: „My mother said, ‘You have insulted us. You have put our family’s whole life up on the screen in front of the whole Soviet Union.’ When my parents walked down the street, people pointed at them. One woman pointed at my mother and said, ‘Is your family life really such a nightmare? Is our daughter so awful?’ My mother couldn’t handle it.“
Ich habe KLEINE VERA vor Wochen einfach testweise mal in den DVD-Player geworfen und war begeistert, dass dieser Film, ähnlich wie auch ASSA, sogar 25 Jahre nach dem Erscheinen noch die Energie vermittelt, die damals in der Luft lag. Für mich ein völlig verdienter Kultfilm, auf den eigentlich der Ausdruck Chernukha nicht wirklich passt. Denn der Film strotzt -jenseits aller Schwermut- vor Hoffnung, Liebe und Leben.
Schade, dass danach weder Regisseur, Drehbuchautorin noch Hauptdarstellerin etwas von ähnlicher Relevanz zerrissen haben, weder einzeln, noch in der folgenden Dreierkombi von HOW DARK THE NIGHTS ARE ON THE BLACK SEA (1989): Totgegähnt hab ich mich da.
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Arthouse-Exploitation-Gewichtung 70:30

Schulnote: 1

Dieser Film beschert Menschen einen unterhaltsamen Abend, die
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mochten

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